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Heilende Weisheit: Eine Reise zu alten Pilgerritualen für das Herz

Eines Nachmittags im rabbinischen Seminar stolperte ich über einen alten Text, der eines Tages mein Leben verändern sollte. Es war eine Mischna, eine rabbinische Lehre, versteckt in einem jüdischen Gesetzesbuch aus dem dritten Jahrhundert, in einem Abschnitt, der den meisten Menschen so spannend erscheint wie die Kleingedruckten eines Handyvertrags. Doch während ich an unserem Esstisch in der kleinen New Yorker Wohnung saß und den Text durchging, spürte ich, dass er eine tiefere Bedeutung hatte, die ich noch nicht entschlüsseln konnte. Nach ungefähr einer Stunde, getrieben von der vagen Ahnung, dass sich die Bedeutung des Textes mir erst im Laufe der Zeit erschließen würde, machte ich eine Fotokopie der Seite und legte sie in mein Buch, das ich zurück ins Regal stellte.

Mehr als ein Jahrzehnt später, nach der Benennung von Babys und der Durchführung von Beerdigungen und Hochzeiten, nach der Seelsorge durch Scheidungen, Waldbrände, wirtschaftlichen Zusammenbruch und politische Turbulenzen, zog ich eines Nachmittags dieses Buch wieder aus dem Regal und entdeckte die fotokopierte Seite neu. Dieses Mal raubte mir der Text den Atem. Ich war erstaunt: Nur wenige Zeilen schienen das Wesen des Lebens einzufangen.

Der Text spricht von einem alten Pilgerritual, bei dem Hunderttausende zum Tempelberg in Jerusalem pilgerten, dem Mittelpunkt des jüdischen religiösen und politischen Lebens in der antiken Welt. Die Menge betrat den Hof und bewegte sich im Uhrzeigersinn durch den riesigen Komplex, um nahe dem Eingang wieder hinauszugehen.

Doch jemand, der litt, der trauerte, der einsam oder krank war – jemand, dem etwas Schreckliches widerfahren war – ging durch denselben Eingang und bewegte sich in die entgegengesetzte Richtung. So wie wir es tun, wenn wir leiden: Jeder Schritt gegen den Strom. Und jeder, der den Gebrochenen begegnete, hielt an und fragte: „Was ist passiert?“ „Ich habe meine Mutter verloren“, würde der Trauernde antworten. „Ich vermisse sie so sehr.“ Oder vielleicht: „Mein Mann hat mich verlassen.“ Oder: „Ich habe einen Knoten gefunden.“ „Unser Sohn ist krank.“ „Ich fühle mich einfach so verloren.“

Und diejenigen, die von rechts nach links gingen – jeder Einzelne – sah den Kranken, den Trauernden und den Verlassenen in die Augen. „Möge Gott dich trösten“, würden sie sagen, einer nach dem anderen. „Mögest du in die Umarmung dieser Gemeinschaft gehüllt werden.“

Vor zweitausend Jahren schufen die Rabbiner ein System der rituellen Teilnahme, das auf einer tiefen psychologischen Einsicht beruhte: Wenn du leidest, wenn dein geliebter Mensch zwischen Leben und Tod schwebt, wenn du von Dunkelheit umgeben bist und dich am liebsten isolieren möchtest – weil doch ohnehin niemand verstehen würde – dann erscheine. Verankere dein Leiden im Kontext der Fürsorge.

Doch selbst wenn du in die Gemeinschaft trittst, tust du nicht so, als ob es dir gut geht. Es geht dir nicht gut, und das wird jedem, der dich ansieht, offensichtlich sein. Du trägst deine Sorgen nach außen: Die ganze Welt bewegt sich nahtlos in eine Richtung und du in eine andere. Und dennoch vertraust du darauf, dass du nicht an den Rand gedrängt, verspottet oder missverstanden wirst. An diesem Ort wirst du gehalten, selbst am zerklüfteten Rand des Lebens.

Dieses alte Pilgerritual hat mich die letzten Jahre über begleitet und mein wachsendes Verständnis für das menschliche Herz und die Kraft der Gemeinschaft geformt. Es hat mich die transformative Natur des Erscheinens gelehrt, wenn wir uns zurückziehen wollen, des tiefen Zuhörens auf die Schmerzen anderer, auch wenn wir fürchten, dass es keine Worte gibt. Des gemeinsamen Trauerns und Feierns und der Erkenntnis, dass wir uns zwar nicht gegenseitig heilen können, aber einander sehen müssen.

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